Le Tarn (Leben wie Gott in Frankreich)

 

 

Zuerst sah ich die Geier über den Felsen segeln und dachte mir: wie hoch. Später dann las ich, dass sich die Geier durch die Aufwinde in den Gorges du Tarn (Schluchten) bis auf 500 Meter hochtreiben lassen, fliegen können sie kaum. Sie schweben dann über all dem, was ich die letzten Wochen sehen durfte. Am Abend saß ich vor dem Zelt bei dem Fluss und hörte nur das Rauschen des Wassers und der Blätter im Wind. Unter den Geiern schwebten die Habichte zu ihren Nestern in den Felsen, die rot leuchteten in der untergehenden Sonne.

 

Früh morgens um vier, wenn ich aufstehe und mich in meinen Stuhl setze um dem Leben zu lauschen, beginnen plötzlich die Vögel lauter zu singen, sie begrüßen den Tag wie ich auch. Die Frösche jedoch verstummen, sobald ich meinen Kopf aus dem Zelt stecke. Nach ein paar vergangenen Minuten quakt es wieder, erst einer dann zwei, dann ein Konzert. Dann wieder Stille. Nebenan am Ufer schlafen die Enten. Viel später erst gleiten sie ins Wasser und die Entenmutter mit ihren 14 kleinen Federboakinder zieht ihre Kreise und verliert sich in einem Wasserblumenbeet und alle schnattern wie wild die Blumen hinweg, die blauen Libellen, die vorher an den Blumen saugten,  fliegen auf und davon, manche paaren sich. Ein Entenpaar wird von einem Enterich gestört, die Dame scheint nicht abgeneigt, der Entengatte stürzt sich erbost auf den Konkurrenten bis dieser das Weite sucht. Eine Entenmutter mit 10 Teenies zieht vorbei.

 

Ich schließe meine Augen und bin mitten drin, ich spüre meinen Atem, ich hörte das Rauschen, ich nehme das Leben wahr. Die Tarn fließt dahin und ich muss an das Meer denken, an die Sonne, die das Meer aufsaugt und an die Quelle der Tarn, den Regen, die Sturzfluten, den Schnee, der alles wieder bringt. Ein Wunder.

 

Ich öffne die Augen. Ein Reiher sitzt jetzt auf einem Stein und beobachtet den sprudelnden Fluss und wartet auf einen guten Fang. Es ist dieselbe Stelle, an der auch der Fliegenfischer gestern stand und seinem Sohn das Fliegenfischen zeigte. Nun, keiner fing einen Fisch als ich hinschaute.

 

Mein Blick verliert sich im Wasser. Ein großer Fisch treibt zwischen den Felsen dahin, nur gelegentlich ein Flossenschwung und er ändert die Richtung. Er lebt. Er lebt, obwohl der Reiher ziemlich hungrig scheint. Wie ist er so groß geworden, denke ich. Überall Reiher, Fliegenfischer und all die anderen hungrigen Wesen. Wird er morgen noch leben? Ich liebe ihn in diesem Moment, in dem ich mit allem verbunden bin. Ich denke an all die Enten und Forellen, die ich die Tage gegessen habe. Es ist eine Schande. Ich schäme mich, ich schämte mich nicht, als ich sie aß.

 

Am nächsten Tag ziehen wieder die Entenfamilien vorbei. Vivien sagt: Es sind nur noch 12 Junge. Wo sind die zwei geblieben? Der Fuchs oder der Habicht oder der Reiher haben sie gegessen. Wir geben ihnen Baguette. Seitdem schlafen sie vor unserem Zelt. In unserem Zelt, durch das wir den Regen hören, das Rauschen des Waldes und des Flusses, leben auch ein paar Spinnen, Mücken und Moskitos, Ameisen und anderes Insektengetier.

 

Ich denke daran dass 80 % aller Insekten in Deutschland verschwunden sind wegen landwirtschaftlicher Intensivnutzung.

 

Ich denke an das Kommen und Gehen. Das Leben, den Tot, an Gott. Wieder fehlen zwei Enten am nächsten Tag. Natur ist brutal. Alles zieht dahin,  die Wolken, der Fluss, die Enten. Als ich mein Zelt verpacke ist der Platz leer. So als wäre nie jemand da gewesen. Ich hab keine Spur hinterlassen, wie weg gewischt.

 

Die Ente schaut noch mal: „ach, kein Baguette, wo sind die Zwei, hat sie der Wolf gefressen?“

 

Als ich die Serpentinen hochfahre, denke ich: „ach, werd ich die Tarn nochmal sehen in diesem Leben oder werde ich bald gehen wohin immer die Existenz mich schickt“.

 

Vielleicht werd auch ich schon bald gegangen sein und ein paar Wellen, ein paar Wolken, ein paar Winter werden vergehen und es wird sein, als wäre ich nie dagewesen.

 

(Die Tarn entspringt in den Cevennen nähe Mende und schlängelt sich in einer atemberaubenden Landschaft über Millau und Albi in die Garonne. Seit Jahren verbringe ich immer wieder Zeit dort im Zelt, mit Fahrrad, direkt am Fluss, einsam, still, in Verbundenheit mit der Natur.)